8

Die niedlichen Kleinen tranken Wasser. Wie goldige Bärenjunge hockten sie sich ein wenig plump hin und schlabberten Wasser aus dem Teich. Ihre kleinen rosa Zungen bewegten sich wie die von Katzenjungen. Es waren Tiere von dem Typ, den Kinder unbedingt zum Kuscheln mit nach Hause nehmen wollen.

Es wäre von den Eltern jedoch kein kluger Zug gewesen.

Die süßen Kleinen waren Vielfraße.

Paul Hjelm sah sie ein wenig tollpatschig, fröhlich mit dem eichhörnchenähnlichen Schwanz wedelnd, davon watscheln. Er konnte sich nur schwer vorstellen, wie diese gutmütigen Geschöpfe sich Menschenschädel einverleiben sollten.

»Komm jetzt«, sagte Jorge Chavez ungeduldig. »Paß auf, daß sie dich nicht hypnotisieren. Denk an Ellroy.«

Hjelm beugte sich zum Holzzaun vor, holte sehr tief Luft und fragte geradeheraus, laut und deutlich: »Wer, verdammt, ist Ellroy?«

Doch da hatte Chavez das Vielfraßgehege bereits verlassen und lief auf der anderen Seite des Asphaltwegs am Wolfsgehege entlang. Als Hjelm ihn einholte, sagte Chavez: »Das Wolfsgehege ist also ziemlich groß. Es erstreckt sich von den Luchsen bis hierher. Unmittelbar unterhalb der Vielfraße endet es. Was passiert dann?«

Es hatte zu regnen aufgehört, aber der Boden war immer noch heimtückisch glitschig. Sie bogen ab zum Wolfsgehege, und jeder Schritt war lebensgefährlich. Ein kleiner rutschiger Abhang führte um das Wolfsgehege und hinunter zum äußeren Zaun. An einer Art Tor hockte ein langer schmaler Typ im Blaumann und mit Schutzbrille. Er schweißte. Bläuliche Funken sprühten um ihn her wie verirrtes Neujahrsfeuerwerk.

Sie warteten. Das Feuerwerk sank in sich zusammen. Er klappte die Schutzbrille hoch, die eher eine Gesichtsmaske mit eingebauter Brille war. Sie husteten. Er drehte sich um.

»Hej«, sagte Hjelm. »Wir sind von der Polizei.«

Der Typ im Blaumann nickte kurz und wollte sich wieder seiner Arbeit zuwenden.

Chavez faßte ihn an der Schulter. »Einen Augenblick«, sagte er. »Was ist denn hier passiert?«

Der Typ nahm die Gesichtsmaske ab, kam hoch und starrte aus gut zwei Meter Höhe auf Chavez hinunter.

»Ich finde auch, daß es teuer ist, nach Skansen zu gehen«, sagte er. »Und dann müssen die Kinder auch noch in dies blöde Aquarium, zu diesem bärtigen Fernseh-Jonas, und schon sind fünfhundert Mäuse zum Schornstein raus. Und dann wollen sie was essen und mit diesen dämlichen Schienenautos fahren und Lose kaufen, um Pokemon-Scheiß zu gewinnen, an dem Nintendo Milliarden und Abermilliarden verdient, und schon ist man nicht mehr weit vom Tausender entfernt. Da wünscht man sich, man wäre statt dessen lieber ins Gröna Lund gegangen, doch dann denkt man, daß da inzwischen mehrere Tausender den Abgang gemacht hätten. Aber zumindest hätte man da den freien Fall ausprobieren können.«

Die beiden Polizeibeamten drehten sich verwirrt um, um zu sehen, ob der Mann mit jemandem hinter ihnen sprach. Doch da war niemand.

»Entschuldigung«, sagte Hjelm. »Ich verstehe nicht …«

»Jemand hat den Zaun aufgeschnitten«, sagte der Mann und nickte zu dem feinmaschigen Netz. »Und ich kann die Leute verstehen.«

»Wann war das?«

»Sie haben es anscheinend gestern entdeckt. Ich arbeite nicht hier.«

»Es sieht aber aus, als arbeiteten Sie …«

Der Riese im Blaumann seufzte tief. »Ich bin von der Zaunfirma. Ich mache nur eine provisorische Reparatur. Es ist Freitag, und wir können den neuen Zaun erst Anfang nächster Woche liefern.«

»Und dies war also wann? In der Nacht auf Donnerstag?«

»So muß es gewesen sein. Und zwei Tage später kommen also zwei Polizisten in Zivil vorbei, um die Eindringlinge zu fangen. Schön, daß in diesen Einsparungszeiten wenigstens die Prioritäten stimmen. Und ihr glaubt nicht, daß sie möglicherweise inzwischen verschwunden sind?«

»Doch«, sagte Paul Hjelm. »Ganz entschieden.«

 

Ein Polizist in Uniform kam aus der U-Bahnstation Odenplan hochgestürzt und kotzte Viggo Norlander vor die Füße.

Aha, dachte Viggo Norlander und musterte seine kürzlich erstandenen italienischen Schuhe mit einem inneren Seufzer. So einer.

Nachdem er festgestellt hatte, daß die Schuhe mit heiler Haut davongekommen waren, und die Entschuldigungen des schuldbewußten Polizeiassistenten entgegengenommen hatte, wandte er sich Gunnar Nyberg zu, dessen Blick ebenfalls besagte: Aha. So einer.

So ein Fall.

Sie hatten im Norrboda-Motell in Slagsta gesessen und Asylbewerber vernommen, als Jan-Olov Hultin anrief und sagte: »Ich glaube, ihr solltet euch einmal etwas ansehen.«

Und so waren sie in die Stadt zurückgekehrt.

Während sie unter den rot-weißen Plastikbändern durchtauchten und sich in die Unterwelt begaben, begleitet von dem aschfahlen und dann und wann aufschluchzenden Polizeiassistenten, dachte Viggo Norlander an Erbrochenes. Das letzte Jahr war nämlich von Derartigem bestimmt gewesen. Komisch, dachte er, was für ein Unterschied zwischen dem Erbrochenen von Kindern und dem von Erwachsenen. Und besonders Babyerbrochenes, diese dünnen, weißen, fast wohlduftenden Schauer, die sich wie Nektar über frischgebackene Eltern ergießen. Und dann plötzlich verändert es sich, auf einmal riecht es wie – Kotze.

Das ist ein entscheidender Moment im Leben aller Eltern von Kleinkindern.

Dieser Moment war kürzlich bei der Familie Norlander eingetreten. Der eingefleischte Junggeselle Viggo, der ein wenig überraschend mit fünfzig noch Vater geworden war, bemerkte eines Tages, daß das Erbrochene von Klein-Charlotte angefangen hatte, schlecht zu riechen. Es war eine fürchterliche Entdeckung. Bald würde sie auch anfangen zu laufen. Auf einmal fühlte er sich alt. Ihn überfiel die Einsicht, daß er Charlottes Urgroßvater hätte sein können.

Urgroßvater.

Zum ersten Mal begann er, sich darüber Gedanken zu machen, wie es Charlotte mit so alten Eltern ergehen würde. Er geriet in eine Krise. Sie dauerte mehrere Minuten. Für Viggo Norlanders Verhältnisse war es eine ungewöhnlich lange Krise.

Der Bahnsteig lag völlig verlassen da. Es war ein schauerlicher Anblick. Die U-Bahnstation war geräumt worden, und zwischen Rådmansgata und St. Eriksplan verkehrten Ersatzbusse. In einer halben Stunde mußte der Verkehr wieder in Gang gebracht werden. Dann setzte in Stockholms Innenstadt der Feierabendverkehr ein. Und da würden Ersatzbusse nicht ausreichen.

Viggo Norlander und Gunnar Nyberg hatten also eine knappe halbe Stunde Zeit, um das Geschehen zu überschauen und unter Kontrolle zu bringen.

Hultin hatte sie auf der Stelle angerufen.

»Warum?« fragte Nyberg in sein Handy.

Einen Moment blieb es still. In Nybergs Innerem klang noch die Stimme aus der Vormittagssitzung nach: ›Alle diese vagen Ahnungen gehen mir allmählich auf den Geist.‹ Und Hultin wußte, wovon er sprach.

»Ich weiß«, sagte er kleinlaut. »Es ist vage. Aber richtig normal ist es nicht. Fahrt sofort hin.«

»Dürfen wir schnell fahren?« fragte Nyberg hoffnungsvoll. Im Zuge seiner Lebenserneuerung hatte er seinen alten klapperigen Renault gegen einen brandneuen ausgewechselt. Nachdem er mit achtzehn einen R 4 besessen hatte, einen lebensgefährlichen ›Laban‹ aus papierdünnem Blech, wurde er der französischen Marke nie untreu. Es war eine lebenslange Liebe.

»Ja«, sagte Hultin großzügig. »Ihr sollt schnell fahren.«

Und sie fuhren schnell. Slagsta-Odenplan in fünfzehn Minuten. Auf Straßen mit hoher Aquaplaning-Gefahr.

Sie glitten die Rolltreppe hinunter. Im Unterschied zu den meisten U-Bahnstationen in Stockholm war die Station Odenplan luftig und geräumig, mit hoher Decke und offenem Bahnsteig, ohne trennendes Mauerwerk. Ungefähr in der Mitte des Bahnsteigs saß ein junger Mann mit einer Bandage um den Kopf. Um ihn herum standen abwartend zwei Sanitäter mit einer Trage sowie drei uniformierte Polizisten. An der Rolltreppe am linken Ende des Bahnsteigs lag ein Stück Plastikfolie. Daneben stand ein Polizist. Und unten auf den Geleisen links lagen weitere Stücke Folie. Ein paar Kriminaltechniker gingen umher und fotografierten.

Als sie die Rolltreppe hinunterkamen, sagte der Polizist, dessen Erbrochenes Norlanders neue Schuhe um zirka zwei Zentimeter verpaßt hatte: »Ich hoffe, ihr seid auf das hier gefaßt.«

Seine Stimme war kaum als tragend zu bezeichnen.

»Nein«, sagte Viggo Norlander und hob die nächstliegende Plastikfolie an. Nyberg sah ihn von der anderen Seite der Folie, ohne zu sehen, was darunter war. Norlander hockte ganz still. Ohne eine Miene zu verziehen, ließ er die Folie wieder fallen, kam langsam hoch und erbrach sich auf seine neuen italienischen Schuhe.

So ein Fall also, dachte Gunnar Nyberg und reichte dem Kollegen sein Taschentuch.

Er machte sich hart, ging in die Hocke und hob die Plastikfolie an. Darunter lag ein Unterkörper. Er begnügte sich mit der Feststellung und richtete sich wieder auf.

»War etwas in den Taschen?« fragte er den Polizisten, der daneben Wache stand.

Der Mann nickte und überreichte ihm einen verschlossenen Plastikbeutel.

Nyberg schaute hinein und sah ein Schlüsselbund, eine Brieftasche und sechs Handys. »Ahaa«, sagte er nur und schloß den Beutel wieder.

»Hamid al-Jabiri«, sagte der Polizeiassistent. »Vierundzwanzig Jahre alt. Aus Fittja. Zwei Vorstrafen wegen Körperverletzung und schwerem Diebstahl.«

»Ich sag’s ja«, sagte Nyberg und ging weiter den Bahnsteig entlang. Auf einer Bank saß Norlander und wischte sich die Schuhe ab. Er ließ ihn sitzen. Dann holte er einmal tief Luft und sagte zu dem Polizeiassistenten:

»Wollen wir uns den Rest ansehen? Wie heißt du übrigens?«

»Andersson«, sagte der Polizeiassistent und ging weiter, wobei er auf die Gleise zeigte: »Es sind drei Teile. Eins schlimmer als das andere.«

Nyberg sprang auf die Gleise hinunter, dicht gefolgt von Andersson, der fortfuhr: »Das nächste ist das schlimmste. Es ist nur ein Matsch. Oberkörper und Kopf. Der Kopf ist nicht spaßig.«

Nyberg hob die Folie an und sah, daß Andersson nicht gelogen hatte. Hier gab es nichts zu tun. Sie gingen weiter zum nächsten.

»Die beiden hier sind die Arme«, erklärte Andersson.

»Offenbar sind sie beide abgerissen worden. Sie sind etwas besser erhalten.«

Norlander tauchte auf, kreideweiß. Söderstedt? dachte Nyberg verwundert und hielt ihn, als er heruntersprang.

»Wieder auf dem Damm«, sagte Norlander, heroisch schniefend.

Die beiden restlichen Folien lagen dicht beieinander, vielleicht zehn Meter weiter als der Körper. In der ersten Hand, der rechten, saß ein Messer.

»Sieh mal an«, sagte Nyberg.

In der anderen Hand saß ein Handy.

»Eine letzte Beute«, sagte Nyberg. »Ich hoffe, er kann es noch brauchen.«

Andersson legte die Plastikfolie zurück und schwang sich locker hoch auf den Bahnsteig. Er war von dem schauderhaften Anblick merkwürdig unberührt. Nyberg und Norlander mühten sich ein wenig steif über die Kante. Es ärgerte Nyberg, daß es nicht glatter ging. Nach all der verfluchten Gesundheitskost.

»Reden wir jetzt mit dem Kumpan?« fragte Norlander keuchend.

»Adib Tamir«, nickte Andersson. »Genau die gleiche Vergangenheit: Körperverletzung und schwerer Diebstahl. Dreiundzwanzig Jahre. Mit Gehirnerschütterung.«

Sie waren auf dem Weg zum anderen Ende des Bahnsteigs, als ein Mobiltelefon klingelte. Nyberg und Norlander griffen beide zu ihrem. Nichts. Dann schaute Nyberg in den Plastikbeutel mit den sechs Handys. Er hielt das Ohr daran. Von da kam es auch nicht. Er warf einen Blick auf Andersson, der die Hände hob.

»Au Scheiße, verdammte!« stieß Gunnar Nyberg hervor und stürzte zurück zu dem anderen Gleis. Norlander und Andersson folgten ihm.

Sie sprangen aufs Gleis hinunter. Nyberg riß die Plastikfolie von dem linken Arm fort.

Das Mobiltelefon in der Hand klingelte.

Nyberg beugte sich hinunter und versuchte, den Griff der Finger zu lockern. Es saß fest wie in einer Schraubzwinge. Schließlich bekam er es los. Er winkte Norlander und Andersson zu sich. Sie steckten die Köpfe zusammen wie eine Handballmannschaft vor dem Spiel.

Dann drückte Nyberg auf den grünen Knopf. Keiner sagte etwas.

Aus dem Handy kam ein unbegreiflicher Redeschwall. Eine Frauenstimme in einer fremden Sprache. Dann war es eine Weile still, dann kam etwas, was anscheinend ein Fluch war, und es war still.

Die drei Polizisten wechselten verwunderte Blicke. Schließlich faßte Nyberg sich und sagte: »Versucht, euch das zu merken. Wir schreiben es auf, jeder für sich.«

»Und warum?« fragte Andersson verwirrt.

»Weil es eine Mitteilung an den Mörder war«, sagte Nyberg gelassen.

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